FLOWO: Liebe Frau Follert, was macht denn ein Unternehmen aus Ihrer Sicht heute wirklich interessant für Arbeitssuchende?
Liza Follert: Ich glaube, Menschen suchen wieder nach mehr Beständigkeit. Durch die Ereignisse der vergangenen Jahre wurden traditionelle Werte verstärkt in den Fokus gerückt. Vor allem Aspekte der unternehmerischen Nachhaltigkeit sind wichtiger geworden: Hat das Unternehmen eine längere Geschichte? Ist es auf dem Markt etabliert und hat es ein stabiles, vernünftiges Wachstum? Wir sehen gerade viele Veränderungen – auch bei großen Unternehmen. Deshalb ist der sprunghafte Wechselwille, den wir noch vor Covid, aber auch direkt nach Covid beobachtet haben, zurückgegangen. Gleichzeitig spielt die Bedürfnisorientierung eine große Rolle. Es geht also nicht um Prestige, Claims und Purpose, sondern ganz grundlegend um eine nachhaltige, feste Wirtschaftlichkeit des Unternehmens, kombiniert mit der Frage, ob ich als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer in meinen Bedürfnissen gesehen werde. Und diese Mischung finde ich spannend, denn die haben wir so in meinen Augen zum ersten Mal.
Das heißt, dass Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben für die Zufriedenheit im Job und die Attraktivität eines Unternehmens durchaus eine Rolle spielt?
Ja, die Bedürfnisorientierung ist letztlich genau diese Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Wobei gerade das Privatleben mittlerweile deutlich vielseitiger geworden ist. Früher ging es immer um Beruf und Familie. Heute ist Privatleben nicht mehr zwingend mit Familie gleichzusetzen. Das heißt: Wir müssen nicht mehr nur für Frauen zwischen 30 und 40 etwas anbieten, sondern auch für Personen, die direkt aus dem Studium kommen und solche, die zwei Jahre vor dem Ruhestand stehen – und für alles dazwischen. Das macht es, finde ich, gerade sehr spannend. Aber dieser Spagat macht es gleichzeitig auch anspruchsvoll.
Was bieten Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen hierzulande an, um Arbeit und Privates bestmöglich in Einklang zu bringen?
Wir bieten sehr vieles an in Sachen „Work Life Integration“. Wo immer es geht, ermöglichen wir ein hohes Maß an Flexibilität, vor allem eine zeitliche und örtliche Unabhängigkeit. Wir haben schon während der Covid-Phase in Deutschland eine Vereinbarung implementiert, die eine Verteilung von flexiblem Arbeiten zur Präsenzarbeit von 60:40 ermöglicht. Die haben wir jetzt noch einmal erweitert und gefestigt. Wir nennen das „Human Centric Collaboration“. Die Entscheidung darüber, wie, wann und wo zusammengearbeitet wird, überlassen wir den Teams.
Viele Kolleginnen und Kollegen haben außerdem das Bedürfnis, nicht nur innerhalb Deutschlands flexibel zu arbeiten, sondern auch in anderen Ländern. Wir haben deshalb die Vereinbarung, dass sie innerhalb eines 12-monatigen Zyklus an dreißig Tagen in mittlerweile 17 verschiedenen europäischen Ländern arbeiten können. Natürlich immer im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.
Und wie sieht es mit Teilzeit- und Jobsharing aus?
Jobsharing ist ein Thema, das nicht nur bei uns, sondern auch in den allermeisten Unternehmen, die ich kenne, ein eher schwieriges ist. Viele Führungskräfte tun sich noch schwer damit, Arbeit und Arbeitsinhalte neu zu denken. Zum Beispiel, wie man Aufgabenpakete, die ursprünglich für eine Vollzeitstelle gedacht waren, sinnvoll auf zwei oder auch drei Teilzeitkräfte verteilt. Das ist tatsächlich etwas, das Unternehmen generell noch deutlich vorantreiben könnten. Bislang beobachte ich das eher in Einzelfällen, die mit hohem individuellem Einsatz verbunden sind. Ich kann auch vollkommen verstehen, dass es für Führungskräfte eine Hürde darstellt. Gleichzeitig glaube ich persönlich, dass in Zukunft kein Weg daran vorbeiführt, wenn wir die unausgeschöpften Arbeitsmärkte nutzen wollen. Es gibt einfach Personengruppen, die wir immer noch strukturiert ausschließen. Und dazu gehören die hoch ausgebildeten Teilzeitarbeitskräfte mit einem Arbeitsumfang zwischen 30 und 60 Prozent. Ich denke, es ist möglich, hier Lösungen zu schaffen, wenn auch nicht in jedem Bereich. Dafür brauchen wir an der Stelle aber von beiden Seiten eine hohe Flexibilität.
Teilzeitverträge gibt es – mittlerweile auch in den Fertigungsbereichen. Vorausgesetzt, der Stundenumfang fällt nicht unter eine magische Grenze. Und die liegt gefühlt im Moment bei etwa 70 Prozent. Was dem entgegensteht, sind Abhängigkeiten und die Erwartungshaltung, innerhalb kurzer Zeit Rückmeldungen auf Anliegen zu bekommen. Wenn ich morgens um 9 Uhr eine Mail bekomme, erwartet mein Gegenüber nicht selten, dass ich sie bis zum Abend beantwortet habe. Andernfalls kann es sein, dass ich am nächsten Morgen die Nachfrage bekomme, ob ich die Nachricht nicht gesehen habe. Das war früher anders. Da wurden auch mal zwei, drei Tage Zeit gegeben. Wenn nun eine Teilzeitkraft am Donnerstag und Freitag nicht im Einsatz ist und eine Anfrage von Mittwoch erst am Montag bearbeitet, fühlt sich das plötzlich sehr lange an. Das heißt, man muss natürlich schauen, in welchen Jobs die Zeit gegeben werden kann oder ob Aufgaben ohne Qualitätseinbußen übergeben werden können.
Ich glaube, damit Teilzeitmodelle wirklich gut funktionieren, müssen wir lernen, Aufgaben von Personen zu lösen. Das ist die einzige Option, gleichzeitig aber auch ein riesiger kultureller Schritt, der da gemacht werden muss. Bisher geht das vor allem in Bereichen gut, in denen das gelernt ist. In der Produktion zum Beispiel, wo die Frühschicht und Spätschicht im Wechsel ein Gerät fertigen.
Sie sind für den gesamten EMEA-Raum zuständig, also Europa, den Mittleren Osten und Afrika: Spüren Sie Unterschiede in der Anspruchs- bzw. Erwartungshaltung deutscher Arbeitnehmender im Vergleich zu den anderen Märkten?
Wir setzen etwa unseren „Human centric collaboration“-Ansatz überall ein – als weltweites Produkt sozusagen. Dieser wird allerdings höchst unterschiedlich angenommen. Gleiches gilt für den Anteil der in Teilzeit arbeitenden Personen. Auch er ist höchst unterschiedlich in diesen Regionen. Von ca. 15 bis 20 Prozent der Belegschaft in den Niederlanden oder den nordeuropäischen Ländern, bis hin zu nicht einmal zwei Prozent etwa in Osteuropa oder dem mittleren Osten. Das ist tatsächlich stark kulturell, aber natürlich auch wirtschaftlich bedingt.
Haben Sie bei Siemens Healthineers ein eher standardisiertes Set an Angeboten oder versuchen Sie auch, soweit möglich, individuellen Bedürfnissen zu entsprechen?
Neben dem breiten, standardisierten Angebot sind wir als Unternehmen wirklich gut darin, lokaleLösungen zu schaffen. Und manchmal werden aus diesen Einzelfalllösungen dann wiederum standardisierte Angebote. Das heißt, wir schaffen Leuchttürme, nutzen also Fallbeispiele, um zu zeigen, was möglich wäre. Wenn es gut läuft, versuchen wir es noch ein zweites, drittes, viertes Mal und manchmal wird daraus dann ein serielles Angebot. Ich finde, das klappt bei uns schon wirklich gut.
Kommunizieren Sie eigentlich aktiv Ihre flexiblen Rahmenbedingungen?
Wir sind extrem zurückhaltend, was das betrifft. Wir machen kaum Employer Branding und promoten auch keine Benefits auf unseren Stellenausschreibungen. Selbst unsere Kolleginnen und Kollegen sind manchmal überrascht von dem, was wir alles bieten. Unsere Arbeitgebermarke profitiert ganz klar von der Muttermarke Siemens. Und darauf können wir ein Stück weit bauen. Gleichzeitig funktioniert eine gute Brand nur so lange, wie der Job generalistisch genug oder unabhängig von der Branche ist. Sobald wir in branchenspezifische Jobs gehen, spüren wir schon auch den Fachkräftemangel. Wir haben gerade als globales Unternehmen zum ersten Mal die Auszeichnung „Great place to work“ bekommen. Neben der Mitarbeitendenbefragung gibt es auch einen Standardfragebogen zu Leistungen und Angeboten und da haben wir gut abgeschnitten, weil wir wirklich viel anbieten. Wir reden nur noch nicht viel darüber, weil das in der Vergangenheit auch nicht notwendig war. Da stecken wir noch mitten in einem Veränderungsprozess.
Sie haben also das Gefühl, es wird notwendiger, darüber mehr zu sprechen?
Ja, auf jeden Fall. Wenn ich mir anschaue, was gerade Frauen zwischen 25 und 45 wollen, dann sind das inhaltliche Werte. Sie wollen wissen, wie das Team ist, wie es um den Wohlfühlfaktor steht, wie es mit Flexibilität aussieht und mit Weiterbildungsmöglichkeiten. Den Wohlfühlfaktor zu transportieren ist allerdings gar nicht so einfach. Um da Glaubwürdigkeit zu erzeugen, braucht man ganz viel Storytelling nach außen. Also lassen wir zum Beispiel auf Instagram immer öfter Mitarbeitende ihre Geschichten erzählen und auch Patientengeschichten spielen eine größere Rolle und ergänzen damit die technologiebezogenen Inhalte.
Sind es denn vor allem Frauen bzw. Mütter, die nach Flexibilität fragen oder haben Sie das Gefühl, dass sich der Bedarf in ähnlicher Weise auf die verschiedenen Personengruppen verteilt?
Am relevantesten ist das Thema sicherlich in der Familiengründungsphase. Das betrifft aber explizit nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Wir haben in diesem Jahr in Deutschland ein Väternetzwerk gegründet Dads@Healthineers. Und was sind dort die Top-Themen? Teilzeit, flexibles Arbeiten, Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Da gibt es also keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Aber was inzwischen auch wirklich wichtig wird, ist das Thema Care-Arbeit für die ältere Generation. Da merken wir momentan einen steigenden Bedarf in der Generation 50+, die sich verstärkt um die eigenen Eltern kümmert.
Die kleinste Gruppe ist die der Job-Einsteigerinnen und Einsteiger. Bei ihnen geht es mehr um die Mini-Flexibilität, hier mal ein bisschen mehr, dort mal ein bisschen weniger arbeiten zu dürfen. Zum Beispiel am Freitagnachmittag etwas früher aufhören zu dürfen oder am Montagmorgen etwas später anzufangen. Was ich auch sehe, ist der Wunsch, mal eine Woche von der Skihütte, aus Italien oder von einem Städtetrip aus arbeiten zu dürfen. Aber in dem Umfeld, in dem ich mich bewege, sehe ich nichts davon, dass junge Leute nicht mehr arbeiten wollen und nichts mehr zu leisten bereit sind. Sie arbeiten Vollzeit, wünschen sich diese aber gepaart mit einer gewissen „Wohlfühl-Flexibilität“, während die anderen Gruppen auf die genannte Flexibilität in ihrer Lebensrealität tatsächlich angewiesen sind.
Bei denen, die sich verstärkt Gedanken um die Pflege der eigenen Eltern machen: Sind das ganz klassisch eher die Frauen oder auch Männer?
Das ist ein guter Punkt, da sind wir gerade tiefer reingegangen. Wir setzen einmal im Monat eine Mitarbeitendenbefragung um und haben da jetzt etwas draufgesetzt, das wir „Self-ID“ nennen. Das heißt, vorher konnten wir einfach nur ein generelles Stimmungsbild abfragen, aber nicht differenzierter auswerten. Jetzt gibt es die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis anzugeben, welchem Geschlecht und welcher Altersgruppe man angehört, ob man Pflegeaufgaben für Kinder oder andere Angehörige hat, eine sichtbare oder unsichtbare Schwerbehinderung, eine sexuelle Orientierung abweichend der Heteronormativität. Man kann sich also in den Vielfaltsmerkmalen identifizieren. Die Antworten sind dann nach wie vor anonym, aber eben den Merkmalen zugeordnet, sodass wir einen besseren Blick auf die Bedürfnisse der einzelnen Gruppierungen bekommen. Wir sehen zum Beispiel, ob die Zustimmung unter den Personen, die eine Care-Arbeit leisten müssen, deutlich unter dem Durchschnitt liegt, oder die Zustimmung von Frauen, Jüngeren, Älteren oder Nicht-Muttersprachlern deutlich abweicht. Und können uns dann fragen, warum das so ist. Es geht also im ersten Schritt ums Zuhören und dann im zweiten Schritt ums Zulassen.
Wir haben hier gerade erst mit einer ersten Kohorte in Deutschland angefangen. Andere Länder folgen. Es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis wir da konkretere Ergebnisse haben. Aber das finde ich extrem spannend, weil wir jetzt wirklich reinschauen und dann gezielt Fokusgruppen einsetzen können, um zu erfahren, was konkret ein Thema ist; wo der Schuh drückt. Und das ist ein großartiger Schritt. Das hätte gerne auch schon zehn Jahre früher passieren dürfen – aber so etwas braucht manchmal einfach seine Zeit.
Abschließend freuen wir uns, wenn Sie folgende zwei Sätze vollenden:
Wenn ich mir für die Zukunft der Arbeit etwas wünschen dürfte, dann wäre das… dass wir mehr mit den Menschen sprechen als über sie. Weil es immer wieder vorkommt, dass Menschen Lösungen für andere erarbeiten, obwohl sie die Situation der Betroffenen gar nicht genau kennen. Wer sitzt derzeit in hohen HR-Positionen? Das sind nicht die jungen Mütter. Das sind nicht diejenigen, die in alternativen Familienmodellen groß geworden sind. Sondern das sind die, die in einem sehr klassischen, traditionellen Arbeits-Familien-Konstrukt sozialisiert wurden – und nun die besten Lösungen für Menschen entwickeln sollen, die 30 Jahre jünger sind als sie selbst. Und daran glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich aus meiner persönlichen Mikro-Welt wirklich darüber urteilen kann, was andere Menschen brauchen, wenn ich nicht mit ihnen gesprochen habe und sie wenigstens mal gefragt habe: Was braucht ihr denn wirklich? Und das wird uns in der Arbeitswelt sehr helfen, wenn wir mehr mit den Leuten sprechen, die es betrifft, als über sie zu sprechen.
Wir brauchen in Zukunft mehr flexible Arbeitsbedingungen, weil… alles immer komplexer wird. Weil wir in den demografischen Wandel reinstürzen. Auch wenn eine wirtschaftliche Gesamtsituation dazukommt, die das Ganze vielleicht ein bisschen abmildert. Und eine Automatisierung, die man allerdings als viel gravierender prognostiziert hat. Und weil Flexibilisierung mittlerweile zum Standard geworden ist: Es sind keine Einzelfälle mehr, sondern ein erheblicher Anteil, der sich diese wünscht oder sie wirklich braucht. Wir reden nicht mehr über 80:20, sondern über 50:50.